Charlotte Bühler
Charlotte Bühler, geb. Malachowski (* 20. Dezember 1893 in Berlin; † 3. Februar 1974 in Stuttgart) war Entwicklungspsychologin auf dem Feld der Kinder- und Jugendpsychologie und gilt als Begründerin der modernen Entwicklungspsychologie. 2016 wurde ihr ein von dem Künstler Thomas Baumann gestaltetes Denkmal im Arkadenhof der Universität Wien gewidmet. Denkmal Charlotte Bühler
Leben
Charlotte Bühler geborene Malachowski wurde am 20. Dezember 1893 in Berlin-Charlottenburg geboren. Sie wuchs in einer gutsituierten Familie jüdisch-polnischer Abstammung auf. Ihr Vater Herrmann Malachowski war königlicher Regierungsbaumeister und Architekt, ihre Mutter Rose Malachowski ging ihrem musischen Interesse nach und unterhielt in ihrem Haushalt einen Salon.[1] Nach dem Abitur begann Charlotte Bühler 1913 in Freiburg im Breisgau ihr Studium und studierte dort ein Semester lang Philosophie und belegte daneben Seminar in Botanik, Medizin und Germanistik. Im selben Jahr wechselte sie zum Wintersemester den Studienort und setzte ihr Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität in den Fächern Medizin und Psychologie fort. Nach einem kurzzeitigen Studienaufenthalt in Kiel, kehrte Bühler nach Berlin zurück.[2] Dort war vor allem der Psychologie-Professor Karl Stumpf (1848-1936) für sie bedeutend. 1915 bot er ihr eine Assistentenstelle und die Möglichkeit einer Dissertation an. Da das vorgegebene Thema nicht in ihrem Sinne war, empfahl Stumpf sie an Oswald Külpe (1862-1919) nach München, der zustimmte jedoch im selben Jahr unerwartet verstarb. Seine interimistische Vertretung in München wurde Karl Bühler, der spätere Ehemann Charlotte Bühlers. Er übernahm neben dem Lehrstuhl auch die Betreuung ihrer Dissertation. Schon bald entwickelte sich eine Beziehung zwischen beiden, auf die am 4. April 1916 die Heirat in Berlin und ein Jahr darauf die Geburt des ersten Kindes Ingeborg folgte. Im Herbst 1917 beendete Charlotte Bühler ihre Inauguraldissertation "Denkexperimente" und promovierte am 14.12.1917 bei bei Erich Becher (1882-1929) und Clemens Baeumker (1853-1924).[3] Im selben Jahr erschien ihre Publikation “Das Märchen und die Phantasie des Kindes“. Karl Bühler wechselte als außerordentlicher Professor 1918 an die Technische Hochschule nach Dresden, wohin ihm Charlotte Bühler nachfolgte. Rolf, das zweite Kind des Ehepaares, kam 1919 zur Welt. Am 2. Juni desselben Jahres habilitierte sich Charlotte Bühler bei dem Literatur- und Kunstwissenschaftler Oskar Walzel (1864-1944) mit der Schrift "Entdeckung und Erfindung in Literatur und Kunst – eine psychologische und nicht literarische Studie". Zwei Jahre darauf, 1922, erhielt Karl Bühler einen Ruf an die Philosophische Fakultät der Universität Wien. Da es an der Universität Wien noch kein eigens der Psychologie gewidmetes Institut gab und die Berufung deshalb beinahe nicht Zustande gekommen war, kooperierte die Universität mit der Stadt Wien. Das Ehepaar siedelte nach Wien über, wo sie von 1923 bis 1938 lebten. Charlotte Bühler konnte eine von der Stadt Wien finanzierte Assistenzstelle antreten. In Wien gingen beide unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und -tätigkeiten nach, die bald unter dem Namen "Wiener Schule" Bekanntheit erlangten. Sie bauten gemeinsam das Institut für Psychologie auf und prägten dieses zum Beispiel in ihrem Bestreben innerhalb der internationalen kinder- und jugendpsychologischen Forschung. Leonie Herwartz-Emden und Janine Keller bemerken hierzu: "In dieser Zeit besuchen Student/innen aus 18 Nationen die Vorlesungen und Seminare des Bühlerschen Ehepaare, arbeiten an deren Studien mit und promovieren zum Teil auch bei ihnen."[4] Als sich 1938 der Anschluss Österreichs an Deutschland vollzog, befand sich Charlotte Bühler in London in dem von ihr gegründeten "Parents Association Institute"[5] und entging somit einer Verhaftung. Durch ihre jüdische Abstammung wurde die Familie Opfer der Verfolgung der Nationalsozialisten, sodass Karl Bühler alsbald von der Gestapo verhaftet wurde. Charlotte Bühler, die mittlerweile zu Vorträgen nach Norwegen weitergereist war, bemühte sich um die Ausreise ihrer Familie und konnte diese durch den Kontakt zum norwegischen Generalkonsul Ellef Ringes a. D. nachholen.[6] In Norwegen war es Charlotte Bühler möglich weiter ihrer Lehrtätigkeit nachzugehen. Sie hielt zunächst Gastvorlesungen an der Universität von Oslo und konnte eine Psychologie-Professur an der Lehrakademie in Trondheim wahrnehmen.[7] Karl Bühler zog im Jänner 1939 in die Vereinigten Staaten, um dort am St. Scholastica College in Duluth eine Dozentur anzutreten. Seine Ehefrau blieb solange in Norwegen wie es ihr unter den politischen Umständen in Europa möglich war, begab sich nach Schweden und anschließend zu ihrem Ehemann in die Vereinigten Staaten.[8] Aufgrund der geringen Anzahl an entsprechenden universitären Stellen waren beide dazu gezwungen Stellen, die nicht ihrer Qualifikation entsprachen, anzunehmen, sodass sie an verschiedenen Undergraduate Colleges in Minnesota unterrichteten. Ab 1945 nahm Charlotte Bühler eine Stelle als Psychologin an einer Klinik in Los Angeles wahr. Charlotte Bühler konnte im Laufe der Jahre eine psychotherapeutische Praxis aufbauen und ihre Forschungstätigkeit fortsetzen. Ihr Ehemann Karl Bühler unterstützte sie in ihren Projekten, litt jedoch zusehends an den Folgen der Emigration, sowie der gescheiterten Anknüpfungsversuche in der amerikanischen Forschung. Er verstarb 1963 im Alter von 84 Jahren.[9] Bis zu ihrem Lebensende setzte Charlotte Bühler ihre wissenschaftlichen Untersuchungen fort. Sie beschäftigte sich mit der Bedeutung des menschlichen Lebenslaufes und legte den Fokus auf die Vermittlungsarbeit im Feld der psychologischen Beratung. Charlotte Bühler kehrte um 1970 aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurück und verstarb am 3. Februar 1974 in Stuttgart. Knapp ein halbes Jahr vor ihrem Tod nahm Bühler im September 1973 noch am 3. Internationalen Kongress für Humanistische Psychologie in Montréal teil zu dem sie als Hauptrednerin anreiste.[10]
Schaffen
Charlotte Bühlers Wirken und ihre Forschungstätigkeit in der Psychologie, hier vor allem ihre Beschäftigung mit dem menschlichen Lebenslauf, bilden noch heute eine bedeutende Referenz im Bereich/Feld der Entwicklungspsychologie. Gemeinsam mit Karl Bühler setzte sie sich am Aufbau des Instituts für Psychologie an der Universität Wien ein und prägte diese erste Phase des Instituts. Auch in der durch den Nationalsozialismus erzwungenen Emigration in die USA konnte Charlotte Bühler ihre Reputation in ihrem Forschungsfeld erweitern und gilt noch heute in ihrem Schaffen als wichtige Bezugsperson in ihrem Fachgebiet.
Schriften
- Über Gedankenentstehung. Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie, in: Zeitschrift für Psychologie, 80, 1918, S. 129-200.
- Das Märchen und die Phantasie des Kindes, Leipzig, 1918.
- Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 1922.
- gemeinsam mit Hildegard Hetzer und Edith Tudor-Hart: Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr, Jena 1927.
- Kindheit und Jugend. Genese des Bewusstseins, Leipzig 1928.
- gemeinsam mit Hildegard Hetzer: Kleinkindertests. Entwicklungstests für das erste bis sechste Lebensjahr, Leipzig 1932.
- Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Karl Bühler (Hg.), Psychologische Monographien (Band XVI), Leipzig 1933.
- Drei Generationen im Jugendtagebuch, Jena 1934.
- gemeinsam mit Edeltrud Baar/Lotte Danzinger-Schenk/Gertrud Falk/Sophie Gedeon/Gertrud Hortner: Kind und Familie, Jena 1937.
- Maturation and motivation. Personality, 1, 1951, S. 184-211.
- The reality principle. Theories and facts. American Journal of Psychotherapy, 8, 1954, S. 626-647.
- Basic tendencies of human life. Present-day biological and psychological thinking. American Journal of Psychotherapy, 13, 1959, S. 561-581.
- Psychologie im Leben unserer Zeit, München/Zürich 1962.
- Die Wiener Psychologische Schule in der Emigration, in: Psychologische Rundschau, 16, 1965, S. 187-196.
- Wenn das Leben gelingen soll. Psychologische Studien über Lebenserwartungen und Lebensereignisse, München 1969.
- Selbstdarstellung, in: J. L. Pongratz/W. Traxel/E. G. Wehner (Hg.), Psychologie in Selbstdarstellungen, Bern 1972, S. 9-42.
Literatur
- Liselotte Ahnert (Hg.), Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, Wien 2015.
- Rudolf O. Zucha (Hg.), Krise und Chance der Psychologie. Beiträge der Bühler-Symposien, Klagenfurt 2012.
- Leonie Herwartz-Emden/Janine Keller, Charlotte Bühler. „Ich wusste, dass ich schöpferisch würde sein können“, in: Christian Boeser/Birgit Schaufler (Hg.), Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein/Taunus 2006, S. 109-122.
- Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 182-198.
- Gerhard Benetka, Charlotte Bühler geb. Malachowski, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben. Werk. Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 97-100.
Weblinks
- https://www.uni-augsburg.de/institute/ZLbiB/Zentrum/Vorstand/herwartz_emden1/download1/Grundlagentexte/1993_Charlotte__1.pdf
- https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/charlotte-buhler-geb-malachowski-tit-ao-prof-dr
- https://www.univie.ac.at/biografiA/daten/text/bio/Buehler_Charlotte.htm
- https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Charlotte_Bühler
- https://medienportal.univie.ac.at/presse/aktuelle-pressemeldungen/detailansicht/artikel/universitaet-wien-erwirbt-exilnachlass-von-karl-und-charlotte-buehler/
Einzelnachweise
- ↑ Leonie Herwartz-Emden/Janine Keller, Charlotte Bühler. „Ich wusste, dass ich schöpferisch würde sein können“, in: Christian Boeser/Birgit Schaufler (Hg.), Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein/Taunus 2006, S. 109.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 184.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 186.
- ↑ Leonie Herwartz-Emden/Janine Keller, Charlotte Bühler. „Ich wusste, dass ich schöpferisch würde sein können“, in: Christian Boeser/Birgit Schaufler (Hg.), Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein/Taunus 2006, S. 111.
- ↑ Brigitte Rollett, Charlotte Bühler. Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin, in: Liselotte Ahnert (Hg.), Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, Wien 2015, S. 27.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 189.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 189.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 190.
- ↑ Leonie Herwartz-Emden/Janine Keller, Charlotte Bühler. „Ich wusste, dass ich schöpferisch würde sein können“, in: Christian Boeser/Birgit Schaufler (Hg.), Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein/Taunus 2006, S. 113.
- ↑ Gerald Bühring, Charlotte Bühler. Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Sibylle Volkmann-Raue/Helmut E. Lücke (Hg.), Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften, Weinheim/Basel 2002, S. 193.
Darstellungen
Charlotte Reuß